Pelin Tan
Meiner Meinung nach kann der Begriff des Lokalen[1] nicht länger auf eine homogene kulturelle Landschaft verweisen. Lokal beschreibt nicht einfach einen Ort. Auf den Ort bezogen zu sein wird selbst zu einer Handlung, beeinflusst durch das Medium, die Politiken des Raums, ökonomische Wandlungen und das gemeinschaftliche menschliche Verhalten. Örtlichkeit wird durch informelle Ökonomien, soziales Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und transkulturelle Vorgänge ständig neu definiert. Diese Ortsbezogenheit ist eine aktive Handlung der Orientierung, nicht nur in Bezug auf den geographischen Raum, sondern auch im Raum sozialer Beziehungen und Netzwerke. Ich bin an einer künstlerischen Praxis interessiert, die sich mit Lokalität auf mehreren Ebenen befasst, als Orte (engl. site) der Begegnung und der neuen Möglichkeiten der Auseinandersetzung und Teilhabe, an denen die Grenzen zwischen sozialen und kulturellen Mustern und Wirklichkeiten verschwimmen.
In ihrem Werk nähert sich Nadin Reschke der Lokalität in Person einer Nomadin. Die Künstlerin erscheint als mobile Vermittlerin, die sich zwischen den geographischen, sozialen und kulturellen Räumen bewegt. In dem Projekt so weit, so gut zum Beispiel reiste Reschke von Deutschland in Richtung Osten durch 14 verschiedene Länder und wurde in unterschiedliche Gemeinschaften einbezogen. Aus den Begegnungen mit Künstlern und anderen Einheimischen entwickelte sich eine Zusammenarbeit, die auf Teilhabe basierte. Für ihre Reise entwarf und nähte Reschke ein Zelt. Das Zelt ist eine der ältesten Formen der Behausung und grundlegend mit dem Nomadentum verbunden. Es kann zusammengepackt und aufgestellt werden, wo immer es gebraucht wird und schafft sowohl einen transportablen Raum für Begegnungen als auch für den Rückzug. In diesem Projekt wurde das Zelt zu einem Element, das Teil situationsbezogener sozialer und kultureller Begegnungen ist, das Fragen zu einem nomadischen Lebensstil aufwirft, zu Prozessen des Übergangs und deren kultureller Identität.
Mit dem Zelt schuf die Künstlerin für eine kurze Zeit temporäre Orte(engl. sites) im öffentlichen Raum. An dieser Stelle unterscheidet sich der Begriff des Ortes von dem kunstgeschichtlich üblichen als dem eines feststehenden Standortes für eine objektbasierte, auf sich selbst bezogene Installation. Um das Werk von Reschke wirklich zu verstehen, müssen wir eine andere Definition des Ortes entwickeln: die eines Raumes der Begegnung, in dem aus der spezifischen Art und Weise der Beteiligung und Zusammenarbeit eine lokale Handlung entsteht: “kulturelle Anleihe, Aneignung und Übersetzung – multidirektionale Prozesse.“[2]Das Zelt in so weit,so gut entwarf diesen Ort auf verschiedene Art und Weise: Indem Menschen, die am Projekt teilhatten, das Zelt bestickten, kennzeichneten sie Eigenes und begegneten unterschiedlichen sozialen und kulturellen Mentalitäten der anderen Beteiligten. Die bestickte Zeltfläche erzeugte einen Ort, eine Zone der Begegnung. Das Zelt schuf darüber hinaus einen Ort in einem anderen Sinn, indem es einen temporären, halb-öffentlichen Raum im öffentlichen Raum abgrenzte, den jede/r betreten und an dem jede/r durch Beteiligung an der Aktion oder durch ein Gespräch oder eine Tasse Tee teilhaben konnte.
Die Betrachtung von öffentlichem und privatem Raum ist grundlegend, um das Lokale in Übergangsräumen zu verstehen. Auf ihren Reisen kam Nadin Reschke in viele unterschiedliche soziale Gemeinschaften, deren Wahrnehmung von privatem und öffentlichem Raum sich wesentlich von der dualen Definition unterscheidet, die sich im Westen durchgesetzt hat. So wurde zum Beispiel in der Türkei unter osmanischer Herrschaft der Raum zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen durch die Schaffung von halb-öffentlichen Plätzen Schritt für Schritt erweitert, dadurch dass der häusliche Bereich durch damit verbundene entsprechende Handlungen der Subjekte in den Straßenraum erweitert wurde. Mit ihrem Zelt hinterfragt Reschke die Dichotomie von privat und öffentlich und schafft ebenfalls einen halb-öffentlichen Raum. Auch dieser Raum wurde zu einer Begegnungszone, einem Bereich des Lokalen.
In Übergangsräumen wird das Lokale in die Erfahrung des Raumes transformiert, der gekennzeichnet ist durch besondere Bedingungen und Ausprägungen. Diese beinhalten soziale Strukturen wie Netzwerke, den Reiz der ‚Gemeinschaft’ und die spezifische ‚Ortung’ von politischen Praktiken. Im Prozess von so weit, so gut, brachte Reschke sich selbst in diese Strukturen ein, erweiterte sie und erzeugte durch ihre spezifische künstlerische Praxis neue Strukturen. In darauf folgenden Projekten reflektierte die Künstlerin weitere Aspekte von Lokalität als eine auf die spezifische Situation angewiesene Erfahrung, insbesondere translokale Beziehungen zwischen Städten und persönlichen Geschichten oder ‚Subjektivitäten’.
In dem Projekt Kalýntý oder von dem, was übrig bleibt reiste Reschke durch Istanbul und traf Menschen deutsch-türkischer Herkunft, die in die Türkei ‘zurück’ gezogen sind, nachdem sie einen Großteil ihres Lebens in Deutschland verbracht hatten. Die Künstlerin wurde zu ihnen nach Hause eingeladen; dadurch besuchte sie unterschiedlichste Orte. Jede Einladung entwickelte sich anders, weil ein temporärer Ort der Begegnung entstand, ein intimer Ort, fast isoliert aufgrund der räumlichen Situation im Haus. Jede Begegnung basierte auf einer alltäglichen Handlung, jemanden zu einem Essen oder für ein Gespräch zu treffen. Dadurch aber, dass Reschke diese Begegnungen mit unterschiedlichen Teilnehmern immer wieder neu gestaltete, führte sie deren Subjektivität zusammen: unterschiedliche Geschichten, die in der Kombination Muster in der Erfahrung offenbaren, die ihnen gemeinsam ist: zwischen zwei Kulturen zu leben. Aus der Praxis des Reisens, Besuchens und des Sammelns der damit verbundenen Erfahrungen entwickelte Reschke eine Audio-Installation, in der die verschiedenen Stimmen aus unterschiedlichen Orten zusammen und an einem gemeinsamen Tisch sitzen. Die Installation bringt nicht nur die Geschichten und die Reise der Künstlerin zwischen den unterschiedlichen Besuchen in einer Erfahrung zusammen, sondern stellt selbst wiederum einen Ort oder eine Kontaktzone her, indem die Betrachter am Tisch sitzen und den Raum und die Geschichten mit anderen teilen.
In dem Projekt 15×75 hingucken weggucken hat Reschke das Teilen von und Teilhaben an Geschichten weiter untersucht. Zusammen mit dem Künstlerinnenkollektiv Oda Projesi arbeitete sie in diesem Projekt in Wilhelmsburg, einem Stadtteil von Hamburg, der stark im Wandel begriffen ist. Während des Projektes so weit so gut hatte sie ihr Zelt in Istanbul in Nachbarschaft zum Projektraum von Oda Projesi aufgestellt. Dort brachte sie die Nachbarn in einem Stickerei-Workshop zusammen, bei dem bestimmte Muster im Gebrauch des öffentlichen Raumes, in Diskussionen und der An- und Abwesenheit der Teilnehmer zutage traten. In der Hamburger Zusammenarbeit benutzten die Künstlerinnen ebenfalls einen temporären Ort, um die Bedingungen des öffentlichen Raums offen zu legen. Eine große Betonmauer in Wilhelmsburg war dieses Mal Ausgangspunkt der Arbeit. Die Künstlerinnen waren in vier unterschiedlichen Nachbarschaften mit einem Minibus unterwegs, der als Büro oder Treffpunkt diente, in dem Ortsansässige teilhaben und mitarbeiten konnten, nicht nur mit den Künstlerinnen, sondern auch miteinander. Das Nachdenken über die Existenz und Funktion der Mauer ließ die Anwohner über deren Gebrauch und die Wahrnehmung des öffentlichen Raums in Wilhelmsburg nachdenken. Dabei wurden die eigenen Erfahrungen des im Wandel befindlichen städtischen Umfeldes offenbar. Obwohl die Künstlerinnen nicht lokal in einem geographischen Sinn waren, praktizierten sie Lokalität, indem sie sich selbst innerhalb eines bestehenden sozialen Netzwerks verorteten, und gleichzeitig einen Ort zum Reden, Diskutieren und Agieren kreierten. Dabei thematisierten die Künstlerinnen vor allem die individuellen Wahrnehmungen dieser Gemeinschaft, die wiederum selbst die neuen sozialen Beziehungen genutzt und kulturelle Codes vermittelt haben. Indem Nadin Reschke Begrifflichkeiten des Orts, der Zusammenarbeit und der Teilhabe neu bestimmt, gelingt es der Künstlerin in jedem ihrer Projekte über die bloße Repräsentation von Orten und Gemeinschaften hinaus zu gehen, so wie es Künstler bisher getan haben. Sei es in einem Zelt, an einem Tisch oder in einem Wohnmobilbüro, Nadin Reschke schafft ungewöhnliche Orte zwischen öffentlichem und privatem Raum, zwischen sozialen Netzwerken und Kulturen, zwischen Migration und Zugehörigkeit, in denen Lokalität entsteht als eine situative Praxis in Räumen des Übergangs.
Übersetzt von Thomas Wulfen
[1] lat. locus, „Ort“; localis, „örtlich“ (beschränkt), ortsbezogen“
[2] p. 63; “An Ethnographer in the Field, James Clifford Interview”, p. 52-71, Site-Specificity: The Ethnographic Turn, Ed. Alex Coles, Volume 4, de-,dis-,ex,. Black Dog Publishing Limited, London