Auf Tuchfühlung
Verhandlungen kultureller Identitäten in den partizipatorischen und textilen Arbeiten von Nadin Reschke
„Warum bin ich in Dresden?“ Diese Fragestellung bildete im Jahr 2006 den Projektbeginn von Soundsoviel Gründe, hier zu sein. Als ehemalige Studierende der Hochschule für Bildende Künste Dresden und als damalige Meisterschülerin Ulrike Grossarths adressierte Nadin Reschke diese Frage zuerst an sich, um sie dann an andere weiterzugeben. Mit vermittelten Gesprächspartner*innen führte sie mehrstündige Interviews, die sich den Gründen für Leben und Bleiben in der Stadt widmeten. Während die Künstlerin selbst nach Abschluss ihrer Recherchen Dresden verließ, um unter anderem Istanbul und Berlin zu ihren Wohnorten zu machen, bewahrte sie die Tonaufnahmen in ihrem Archiv auf.
Zehn Jahre später bilden diese Aufzeichnungen das Ausgangsmaterial für weitere Befragungen, die schließlich in ihr Dresdner Atelier- und Ausstellungsprojekt unter gleichnamigen Titel münden. Erneut wendet sich Nadin Reschke an Einwohner*innen Dresdens, die sie zumeist direkt auf der Straße anspricht, um nach den Beweggründen für ihre Wahlheimat zu forschen. Die Gespräche selbst finden in einem eigens von der Künstlerin eingerichteten Erzählcafé und im Montagscafé des Kleinen Haus des Dresdner Staatsschauspiels statt. Aus einer Auswahl von insgesamt sieben früheren und aktuellen Gesprächen extrahiert die Künstlerin jeweils eine Aussage. Fragmente wie Totale Sicherheit; Seitdem die Kinder geboren sind, gibt es kein Weg mehr; Meine Freiheit oder Chance auf ein normales Leben geben lebensgeschichtlich begründete Perspektiven sowie eng mit der Stadt verbundene existenzielle Zwänge und Möglichkeitsräume wider und reichen dabei weit über Tendenzen eines Dresdner Lokalpatriotismus hinaus. Mit Siebdrucktechnik überführt die Künstlerin diese destillierten Zitate auf großformatige, von ihr in verschiedenen Farbtönen bearbeitete und anschließend im Ausstellungsraum als schwebende Installation gehängte Stoffbahnen.
Erzählen und Erinnern als sichtbarer Faden
Stoffe als vielfältiges und wandelbares bildhauerisches Material finden häufig Verwendung in der künstlerischen Praxis Nadin Reschkes. Sie setzt diese für die Sichtbarmachung von Identitäten, von kollektiver Geschichte und individuellen Erfahrungen ein. Dabei dienen die Gewebe sowohl als Bildträger als auch als künstlerisches Ausdrucksmittel. So auch schon in ihrem Projekt so far so good (2004–2005): Mit einem selbst entworfenen Zelt aus weißer, fast transparenter Fallschirmseide – das sie entsprechend ihren individuellen Maßen gefertigt hatte – reiste die Künstlerin zwei Jahre entlang der Seidenstraße in vierzehn Länder, darunter in den Iran, nach Pakistan und Indien. Künstler*innen der jeweiligen Orte bot sie an, das Zelt temporär für eigene Zwecke zu nutzen sowie auf die Zeltwände Bilder und Texte zu sticken. Diese konnten als künstlerische und persönliche Botschaften über Grenzen hinweg von anderen gelesen werden und mit neuen Aufzeichnungen in Dialog treten. Als Teil ihres Projekts Gitterware (2007–2009) entstanden in enger Zusammenarbeit mit weiblichen Inhaftierten bestickte Stofftaschentücher, deren reduziert zeichnerische Bildsprache die Visionen der Frauen vom Tag ihrer Haftentlassung visualisierte.
Ihr Projekt vest. Mode – handgefertigt in Castrop-Rauxel (2013) beschreibt Nadin Reschke selbst als „kollektive Identitätsforschung“ und „Geschichtswerkstatt“. Die von Frauen selbst entworfene Mode wird hier mit ihrer eigenen Zuwanderungsgeschichte und aktuellen Lebenserfahrungen vor Ort zusammengeführt. Auch während ihres zweimonatigen Stipendiums im finnischen Rauma entwarf, nähte und bedruckte die Künstlerin gemeinsam mit arbeitslosen Frauen Kleidungsstücke, die in ihren Schnitten und Mustern die Besonderheiten der lokalen Kultur aufgriffen und später unter dem Titel Paikallisväri (Lokalkolorit) (2017) auf einer im Raum frei hängenden Kleiderstange präsentiert wurden. Zur Präsentation dazu gehörende Fotografien zeigten die Frauen in ihren selbst genähten Kleidern in Interaktion mit den Räumen des städtischen Museums Marela.
Verwobene Strukturen
Am Anfang von Nadin Reschkes Forschungsprojekten stehen zumeist Fragen zur Lebens- und Arbeitssituation von einer Gruppe von Menschen, die an ihre individuellen Biografien als auch an ortsspezifische Gegebenheiten anknüpfen. So aktiviert die Künstlerin persönliche und historische Narrative durch Fragen wie „Wie kann ein Kleidungsstück aussehen, das etwas über mich, über meine kulturelle Identität und ihre Besonderheiten aussagt?“. Vertiefende Gespräche und Begegnungen verbindet sie im Verlauf ihrer Vorhaben mit der Anregung und Anleitung zu kreativen Handlungen und bildkünstlerischer Umsetzung der zumeist mit Kunst wenig vertrauten Akteur*innen. Ihren Ausdruck findet die gemeinschaftliche Beschäftigung schließlich in der Auswahl von Stoffen, die sich in ihrer Materialität und Struktur unterscheiden, in der Wahl für eine bestimmte Farbe, in Entwürfen von Mustern und Ornamenten und bei Textilien in den entsprechenden Schnittmustern. So lehnen sich die Kleidungsstücke aus Paikallisväri an die Auseinandersetzung mit Frauenkleidern historischer Fotografien aus Finnland an, zeigen in Schnitt und Farbe konkrete Referenzen zu den Fassaden-Strukturen der zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Holzhäuser Raumas, greifen in ihren Applikationen und ihrem Design Bezüge zum Meer und zu anderen wirkmächtigen Naturelementen der an der Ostseeküste liegenden Stadt auf, reproduzieren und unterlaufen zugleich folkloristische Traditionen oder sind in den leuchtend orange-blauen Trikotfarben der favorisierten Eishockey-Mannschaft des Ortes geschneidert.
In ihrer Arbeit Soundsoviel Gründe, hier zu sein macht Nadin Reschke auf einer stilisierten Ebene auf die Aussagen und Geschichten der Einzelnen zu ihrer Stadt aufmerksam. Hier stehen die Stoffe und ihre Farbigkeit stellvertretend für die interviewten Personen, sie werden gleichermaßen zu abstrakten Porträts. Dicht nebeneinander präsentiert auf von der Decke hängenden Bambusstöcken, teilen die Stoffbahnen den Ausstellungsraum in intime Zonen ein, welche die Sichtachsen und die Gesamtansicht beschränken. Die Hängung behindert zugleich die Lesbarkeit der visualisierten Texte. Ambivalenzen, die Mischung aus positiven und negativen Setzungen eines Lebens in Dresden vor dem Hintergrund individueller Lebenserfahrungen zeigen sich in farblichen Zwischentönen. Diese ergeben sich einmal aus dem Färbeprozess selbst wie durch die Überlagerung von jeweils zwei Stoffen auf einer Stange. Subjektive Unterschiede und Besonderheiten werden damit signalisiert. Durch die Verwendung identischer Materialien, der gleichen Schriftart und Schriftgröße sowie mit der Konzeption einer gleichwertigen Präsentation der einzelnen Stoffe vermittelt sich zugleich ein Gruppenbild, das Gemeinsamkeiten lesbar macht.
Die Bedeutung von Stoffen
Kleidung und Stoffe haben eine identitätsstiftende Funktion, die der Markierung und Sichtbarmachung von Subjekten sowie der Abgrenzung und Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen dient. Indem Nadin Reschke die Konzeptions- und Produktionsprozesse von Textilien in kollektive und sichtbare Handlungen transformiert – in Soundsoviel Gründe, hier zu sein ist es das öffentliche Erzählcafé, vor allem das durch die Schaufenster ersichtliche Einfärben und Bedrucken der Stoffe in ihrem Atelier und die dokumentarischen Fotografien in dieser Publikation – unterstreicht sie nicht nur bestehende Identitätsentwürfe, sondern kennzeichnet kulturelle Identität(en) als soziale Konstruktion, die ständig hergestellt und verhandelt wird und sich stets neu artikuliert. So dienen Stoffe und Textilien nicht nur der Überlieferung von Wissen und Zuschreibungen, sondern haben – genauso wie die traditionellen, vermeintlich „weiblichen“ Handarbeitsverfahren wie Sticken, Nähen, Färben selbst – Anteil an der Bedeutungsproduktion, die auf den individuellen Körper (rück-)übertragen wird.
Nadin Reschkes künstlerische Praxis schafft Raum für freies Sprechen und für enttabuisierte Erinnerungen. Vor allem unterstützt sie die Mitwirkenden ihrer Projekte dahingehend, sich selbst zu ermächtigen, ungewohnte Fragen zu stellen, neue Ausdrucksmittel zu finden und in der Konsequenz alternative Lebensperspektiven für sich zu wagen und zu beanspruchen.
Angelika Richter